Mittwoch, 9. Januar 2008

Gedachter Brief ...

... an eine Hausärztin, um vielleicht damit besser die Situation der Jugendhilfe zu beschreiben:

"Sehr geehrte Frau Dr. ...,
als ich neulich als Patient in Ihrer Praxis war, haben Sie sich, für mich an unpassender Stelle, zu den Gegebenheiten in einem Kinderheim geäußert. Ihnen war das Thema Rauchen der Erwachsenen sowie die Entdeckung wichtig, dass jetzt schon Betreuer Piercings tragen und wohl beides ein schlechtes Vorbild für die Insassen wäre. Das letzte Substantiv ist übrigens eine interessante Wortwahl.

Ich möchte Ihnen deshalb einen Vorschlag machen. Nehmen Sie sich von Ihrem Budget für Fortbildung mal zwei oder besser vier Wochen und arbeiten Sie in einer Jugendhilfeeinrichtung mit, realistisch im Schichtdienst mit 7 Tagen in der Woche und oder mal 10 Tage am Stück. Erleben Sie, wie es sich anfühlt, wenn Sie ein Sechsjähriger, um den Sie sich den ganzen Tag liebevoll gekümmert haben, aus scheinbar unerfindlichen Gründen am späten Abend mit Geschirr bewirft und Sie als „dumme Fotze“, „alte fette Schlampe“, „unrasierte Sau“ beschimpft oder ein Ihnen körperlich überlegener Jugendlicher Sie nach Mitternacht bedroht, weil die Hausordnung eingehalten werden muß und Sie ihn nicht mehr zum Rauchen vor die Tür lassen können. Erleben Sie, wie es ist, vom behandelten Kinderpsychiater abgekanzelt zu werden, weil Sie um eine medikamentöse Unterstützung des Betreungssettings eines Klienten gebeten haben.

Gehen Sie in dieser Zeit einmal raus aus der Komfortzone der Arztpraxis mit gut geregelten Arbeitszeiten und Entspannungsmusik, weg vom gewohnten Ambiente mit Eigenheim und deutschen Markenauto. Leben Sie in dieser Zeit in einem billigen Hotel in Leipzig-Grünau oder Berlin-Marzahn oder in einer kleinen Vorstadtwohnung neben Prostituierten und Rechten. Erleben Sie, wie es ist, wenn man nachts nicht schlafen kann, weil der Nachbar auf satte Bässe steht. Gehen Sie abends in deren Kneipen und hören den Menschen, die in der 3. Generation von Sozialhilfe, oder wie es heute heißt Hartz IV, leben zu. Vielleicht machen Sie sich für diese Zeit eine kleine Loskiste und ziehen jeden Morgen eines: „Heute kein Handy“ „Heute kein Geld“ „Heute keinen rechtsdrehenden Jougurt“. Fahren Sie in dieser Zeit einen Fiat Baujahr 1988 mit 242.000 km auf dem Tacho.

Und dann reden wir wieder. Vielleicht haben sich dann auch bei Ihnen einige Prioritäten verschoben und Sie urteilen ein wenig anders, weil Sie die Situation der Sozialarbeiter und den Lebensalltag der Klienten besser verstehen.

Ich wünsche Ihnen von ganzem Herzen ...
und viele herzliche Grüße
..."

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Sehr geehrter Herr...,
mit Interesse habe ich den Brief gelesen. was heißt gedachter Brief und wie kam es zu diesem Brief.
Aber auch der alltag der Ärzte ist schwer, steigende Kosten, zu viele Patienten , wenig Geld, Überstunden und so weiter....
DEennoch gebe ich Ihnen an ein paar stellen recht.
Hochachtungsvoll Dr. Seltmea